Archiv der Kategorie: Beiträge von Michael Heisch

Schonungsloser Witz

Unendlich viele Sterne zieren den Umschlag des Comic-Bandes «Der Sinn». Grosse und kleine Punkte – verstreut auf schwarzem Grund liegen sie da, blinken und glitzern, eine ideale Einstimmung für die darauf folgenden Inhaltsseiten. Der Leser taucht in einen schwarz-weiss gezeichneten Bildergeschichten-Kosmos ein, in dem er sich vermutlich streckenweise verlieren, aber eine ebenso überraschende Entdeckungsreise antreten wird. Lost in space – denn die frei schwebenden Geschichten zielen selten auf Erkenntnisschwere ab, breiten indes umso mehr anregend neue Gedanken aus, in die man sich nur allzu gerne verliert.

Andy FischliMan ahnt es schon – «Der Sinn» des Zürcher Zeichners Andy Fischli ist natürlich kein Ratgeberbuch, mit Sprechblasen angereichert und allerhand Anleitungen zur sinnfrohen Glücksfindung. Oder wäre etwa sonst dem literarischen Dauer-Melancholiker Hamlet eine umfangreiche Geschichte beschieden? Hamlet ist, wenn man so will, ein gelungenes Beispiel eines «Recaps» wie sie auf Internet-Foren sehr beliebt sind: Der Zeichner/Autor fasst seine persönliche Sichtweise des Inhalts ironisch-witzig zusammen. Kein abgeleiertes Themen-Recycling, sondern ein mit bissigen Kommentaren versehenes Nacherzählen, wobei Fischlis Hamlet letztlich keine Worte mehr braucht und lediglich in der Synopsis das Wichtigste festgehalten ist. Das Shakespear’sche Welttheater rückt damit als gezeichnetes Figurenkabinett kraftvoller in den Vordergrund.

Ein grimmiger Tod sitzt an einem Empfangstisch jenseits des Jordans und wartet auf all diejenigen, die den Löffel abgeben müssen. Auch eine Selbstmörderin steht an, wird aber vom Sensemann jäh zurück gewiesen, da sie nur einen Schuhlöffel mit sich trägt. Das ist vielleicht Andy Fischlis grösste Stärke: sprachliche Bilder und Redensarten mit klarem Strich und ohne viel Aufhebens zu ungewöhnlichen Geschichten formen, was manchmal anspruchsvoll bis ungemein anstrengend sein kann. Fischlis Bildergeschichten – mal philosophisch, meist komisch und in den meisten Fällen mit einem schonungslosen Witz versehen – entlarven das Innenleben des modernen Menschen; schon alleine dafür steht seine Arbeit unter einem guten Stern. Michael Heisch

Andy Fischli, «Der Sinn», Picaverlag, 140 Seiten, 32 Franken.

Strenge Schönheit

Das duo Contour – der englische Trompeter Stephen Altoft und der amerikanische Schlagzeuger Lee Ferguson Forrest – interpretieren auf dem neusten Album aus der Edition Wandelweiser Kompositionen von Jürg Frey und Antoine Beuger. Die CD beginnt mit Frey »22 Sächelchen», einer Reihe von 22 Kürzeststücken. Sie tragen Titel wie »Abendlied«, »Cadillac«, »Der Photograph« usw.

Das Album beginnt mit weichen Trompetensignalen, dem ein langes Schweigen folgt. Zerbrechliche Klänge werden frei gesetzt und gehören ganz der gewohnten Wandelweiser Subtilität an.

»A Melody for William Street« dauert dreissig Sekunden lang und umfasst acht absteigende Trompetennoten – scharf und laut, insgesamt sechs Mal, während ein Trommelwirbel auf eine Snare-Drum rasselt. Gerade jenes Stück scheint das in sich geschlossene System der mehrheitlich sehr ruhigen Kompositionen aufzubrechen und endet so schnell, wie es flüchtig aufleuchtet.

Die 22 Miniaturen beinhalten kleine Monologe und jazzige Melodien, wenn man so will: musikalischer »Krimskrams«. Doch mit welch intensivem Gefühl der Strenge und einem ausgeprägten Sinn für Präzision – in aller Klarheit, so wie die Musik gespielt wird, so wie die Instrumente zueinander positioniert sind, selbst dann, wenn es manchmal schwer einsehbar ist, wie die Stücke zueinander liegen.

Fast 34 Minuten dauern die »Dedekind Duos« von Antoine Beuger. Der Booklet-Text bezieht sich auf den Mathematiker Richard Dedekind (1831- 1916) und erinnert an seine Theorie über die »eindeutige Zerlegbarkeit der Ideale in Primideale im Ring der ganzen Zahlen eines algebraischen Zahlkörpers«. Mögen bei Freys Musik ab und an musikalische Überraschungen auftreten, so bleibt Beugers Musik konsequent statisch und ist gerade mal genug wahrnehmbar, um leise Veränderungen der Luftfarben zu erkennen, etwa auch dann, wenn ein leises Vibrieren der beiden Instrumente im Folgenden die Töne wie mathematisch zuzuordnen scheint. Ebenso hier ist die Komposition makellos ausgeführt und atemberaubend präzise gesetzt. Michael Heisch

duo Contour: Stephen Altoft (Trompete), Lee Forrest Ferguson (Perkussion), Kompositionen von Jürg Frey und Antoine Beuger, EWR 0906.

Der Geschmack von Chlor

«Du musst dringend etwas für deinen Rücken tun», rät der Physiotherapeut dem unsportlichen Protagonisten und erteilt ihm gleich den Rat, er möge schwimmen gehen. Das stösst beim jungen Mann auf wenig Gegenliebe. «Na ja… irgendwann diese Woche muss ich dahin», telefoniert er mit einem Kollegen, der ihn anfangs bei seinen ungelenken Wassersport-Aktivitäten begleitet.

Irgendwann macht  der namenlose Protagonist dann die Bekanntschaft mit einer wahren Athletin, die ihm die motorischen Feinheiten des Schwimmens beibringt. Der anfängliche Widerwille verschwindet, die Vorfreude auf die regelmässigen Treffen im Schwimmbad überwiegt. Die Athletin und der junge Mann knüpfen eine zarte Bande. Schliesslich…

«Der Geschmack von Chlor» ist das erste Album des französischen Comiczeichners Bastien Vivès in deutscher Sprache. Was den Comic so bemerkenswert macht: Die Story kommt unaufgeregt daher und erzählt die zufällige Begegnung zweier Menschen.

Es sind diese leisen Zwischentöne, was diesen gelungenen Comicband ausmacht und der sparsame Umgang mit Farbe sowie die eindrücklichen Bewegungsstudien und die verschiedenen Blickwinkel vom Beckenrand aus gesehen. Man glaubt geradezu, selber in diese Hallenbad-Atmosphäre einzutauchen. Ein reifes Werk für den 26jährigen Zeichner aus Frankreich.

Bastien Vives

Bastien Vivès studierte Grafik und Animation an der Pariser École des Gobelins. Obschon noch ein sehr junger Zeichner kann er auf ein umfangreiches Œuvre zurückblicken. Hervorzuheben sind vor allem seine Arbeiten wie «Dans mes Yeux», «Amitié étroite» oder «Pour l’Empire», die durch eine enorme stilistische Bandbreite auf hohem Niveau bestechen.

Michael Heisch

Bastien Vivès: «Der Geschmack von Chlor», 144 Seiten, farbig, 27 x 18,5 cm, Klappenbroschur, 18 EUR/SFr. 29.80, Reprodukt, ISBN 978-3-941099-48-7.

Der Rest ist Lärm

Ross NoiseAls plötzlich weit weg erscheint vielen die klassisch moderne Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und bei der rüstigen Dame «Neue Musik» (des 20. Jahrhunderts) wünscht manch einer sich vielleicht, sie möge möglichst rasch in die Grube fallen, damit man sie endlich los sei. Beinahe vergessen liegt diese alte Tante da, und was bleibt, so könnte man meinen, ist eine Referenz- und Zitatmaschine, welche Diskussionen ankurbelt, worauf alle sich in der Runde zwar wohl wissend anblicken. Kaum einer aber ahnt, worum es eigentlich geht.

Alex Ross (*1968) schreibt regelmässig im «New Yorker» über Musik und wurde für seine journalistischen Tätigkeiten mit zahlreichen Preisen überhäuft. Sein erstes Buch «The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören» ist ein beachtlicher Erfolg und wurde mit positiven Besprechungen geradezu überschüttet. Das Buch erschien in 15 Ländern und liegt auch in Deutsch vor. ??Das besondere Geheimnis dieses Bucherfolges? Ross spannt den grossen Bogen von Richard Strauss’ «Salome»-Premiere (1906) bis zur Lokalisierung klassischer Ansätze in unserer digitalen (Pop-)Gegenwart.

Es ist aber vielmehr die Art und Weise, wie Alex Ross gerade nicht Klassik-/Neue Musik-bewanderten Lesern die Werke und die dahinter steckenden Menschen vorstellt und nahe bringt. Der Autor führt den Leser aus dem Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs direkt in die europäischen Metropolen der Goldenen Zwanziger Jahre, von Nazi-Deutschland aus geht der Weg über Russland ins Amerika der Sechziger und Siebziger Jahre. Der Weg führt durch ein oftmals verschlungenes Reich – von den rauschenden Wäldern Sibelius’, mitten in Lou Reeds pochend-dröhnenden Herzschlags von New York.

Vom Aufstieg der Massenkultur und der Politik der Massen ist die Rede, über die Veränderungen durch neue Technologien wird nachgedacht, genauso werden Kriege, Experimente und Revolutionen der vergangenen hundert Jahre zusammengefasst. ??Alex Ross ist ein musikbegeisterter Erzähler – nicht immer klar ist, ob alles lupenrein recherchiert ist und seine aufgeführten Musikbeispiele die relevantesten sind (Hörbeispiele siehe auch unter: www.therestisnoise.com/audio).

Indes gelingt es ihm, Interesse an einer Musik zu wecken, die vielen Menschen vielleicht komplett unbekannt erscheint. Mancher Leser wird den leichten und süffigen Tonfall als reportageartiges Regenbogenblatt im amerikanischen Plauderton abtun. Es ist letztlich dieser ambitionierte Grossansatz, der dieses rund 700-seitige Buch lesenswert macht. Alex Ross geht es darum, die kulturellen Strömungen, Probleme, Entwicklungen anhand der klassisch modernen Musik nachzuerzählen. Ein eigentlich hervorragendes Konzept: nämlich die unfassbare Vielfalt der modernen Musik mit dem Bezug auf die Welt plastisch zu machen, auf die sie reagiert.

Von Michael Heisch

Alex Ross, «The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören», übersetzt von Ingo Herzke, Piper Verlag GmbH, gebunden, 703 Seiten, ISBN-Nummer 3492053017, Sfr. 49.90.