Der Rest ist Lärm

Ross NoiseAls plötzlich weit weg erscheint vielen die klassisch moderne Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und bei der rüstigen Dame «Neue Musik» (des 20. Jahrhunderts) wünscht manch einer sich vielleicht, sie möge möglichst rasch in die Grube fallen, damit man sie endlich los sei. Beinahe vergessen liegt diese alte Tante da, und was bleibt, so könnte man meinen, ist eine Referenz- und Zitatmaschine, welche Diskussionen ankurbelt, worauf alle sich in der Runde zwar wohl wissend anblicken. Kaum einer aber ahnt, worum es eigentlich geht.

Alex Ross (*1968) schreibt regelmässig im «New Yorker» über Musik und wurde für seine journalistischen Tätigkeiten mit zahlreichen Preisen überhäuft. Sein erstes Buch «The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören» ist ein beachtlicher Erfolg und wurde mit positiven Besprechungen geradezu überschüttet. Das Buch erschien in 15 Ländern und liegt auch in Deutsch vor. ??Das besondere Geheimnis dieses Bucherfolges? Ross spannt den grossen Bogen von Richard Strauss’ «Salome»-Premiere (1906) bis zur Lokalisierung klassischer Ansätze in unserer digitalen (Pop-)Gegenwart.

Es ist aber vielmehr die Art und Weise, wie Alex Ross gerade nicht Klassik-/Neue Musik-bewanderten Lesern die Werke und die dahinter steckenden Menschen vorstellt und nahe bringt. Der Autor führt den Leser aus dem Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs direkt in die europäischen Metropolen der Goldenen Zwanziger Jahre, von Nazi-Deutschland aus geht der Weg über Russland ins Amerika der Sechziger und Siebziger Jahre. Der Weg führt durch ein oftmals verschlungenes Reich – von den rauschenden Wäldern Sibelius’, mitten in Lou Reeds pochend-dröhnenden Herzschlags von New York.

Vom Aufstieg der Massenkultur und der Politik der Massen ist die Rede, über die Veränderungen durch neue Technologien wird nachgedacht, genauso werden Kriege, Experimente und Revolutionen der vergangenen hundert Jahre zusammengefasst. ??Alex Ross ist ein musikbegeisterter Erzähler – nicht immer klar ist, ob alles lupenrein recherchiert ist und seine aufgeführten Musikbeispiele die relevantesten sind (Hörbeispiele siehe auch unter: www.therestisnoise.com/audio).

Indes gelingt es ihm, Interesse an einer Musik zu wecken, die vielen Menschen vielleicht komplett unbekannt erscheint. Mancher Leser wird den leichten und süffigen Tonfall als reportageartiges Regenbogenblatt im amerikanischen Plauderton abtun. Es ist letztlich dieser ambitionierte Grossansatz, der dieses rund 700-seitige Buch lesenswert macht. Alex Ross geht es darum, die kulturellen Strömungen, Probleme, Entwicklungen anhand der klassisch modernen Musik nachzuerzählen. Ein eigentlich hervorragendes Konzept: nämlich die unfassbare Vielfalt der modernen Musik mit dem Bezug auf die Welt plastisch zu machen, auf die sie reagiert.

Von Michael Heisch

Alex Ross, «The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören», übersetzt von Ingo Herzke, Piper Verlag GmbH, gebunden, 703 Seiten, ISBN-Nummer 3492053017, Sfr. 49.90.